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Realität und Fantasie

 

Munir Alubaidi


In seinem berühmtesten Buch "Das Kapital" schrieb Karl Marx, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis ist.

Ich habe nicht ganz richtig verstanden was er damit meinte, obwohl er im Kapitel "die Ursprüngliche Akkumulation", den Vorgang der Entstehung des Kapitals erläuterte.

Die Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen, einerseits die Mehrheit, die fast nichts besitzt und deren Mitglieder demzufolge arbeiten müssen, andererseits die Minderheit der Eigentümer, die fast alles besitzen. Diese Teilung der Gesellschaft ist, nach Marx, die Voraussetzung der Entstehung des Kapitals und infolgedessen des Kapitalismus. Sie ermöglicht der Minderheit, ihr Geld zu investieren, um mehr Geld zu bekommen. Das investierte Geld, um mehr Geld zu erlangen, ist das Kapital (Geld – Ware – Geld).

Dieses Ergebnis, Geld zu investieren, um mehr Geld zu bekommen, kann nicht erreichet werden, ohne die Spaltung der Gesellschaft, das heißt ohne eine bestimmte Art von gesellschaftlichen Verhältnisse, wie Marx es ausdrückte.

 

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Im Jahr 1975, fast ein Jahrhundert nach Karl Marx Buch "Das Kapital", wurde ein  Film unter dem Titel "Man Friday" produziert. Dieser Film ist eine neue Version des  berühmten klassischen Romans "Robinson Crusoe": Im 18. Jahrhundert wurde ein europäischer Mann gezwungen, für Jahre an einem Strand einer isolierten Insel zu leben, nachdem sein Schiff gesunken war. 
 

Auf dieser Insel hat Crusoe eine Gruppe von Kannibalen angegriffen und alle erschossen, außer einem. Er nahm den Überlebenden in seine Hütte mit und fing an, ihn zu „zivilisieren“. Er lehrte  ihn Englisch und nannte ihn Friday (Freitag).

Das Bild ist nun das Folgende: ein europäischer zivilisierter Mensch lebt weit weg von seiner industriellen Gesellschaft, besitzt aber immer noch die europäische Mentalität. Er ist begleitet von einem "wilden" Mann, der keine Ahnung davon hat, was privates Eigentum,  Geld, Waren,  Kaufen und Verkaufen usw. bedeuten und welchen Sinn diese Begriffe  haben.

Die Stammesleute, zu denen  „Friday“ gehörte, kannten keine Produktion. Um  zu überleben jagten sie Tiere und sammelten wilde Früchte. Alle Dinge, die der Stamm hat, gehören  jedem. Jede Frau gehört  jedem Mann und kann mit jedem schlafen, die Kinder sind nicht die Kinder eines einzigen Mannes, sondern die Kinder des ganzen Stamms. 

Als Robinson Crusoe Freitag etwas gab, was dieser als „sein“ Eigenes annehmen sollte, konnte Freitag nicht verstehen, was  der Begriff „dein“ oder „sein“ heißt, da es das Possessivpronomen in seiner Sprache nicht gibt.

Crusoe hatte von dem gesunkenen Schiff eine Menge Geld mitgebracht und  Freitag angeboten, als sein  Diener für Geld zu arbeiten. Aber Freitag verstand nicht, warum er jemandem dienen soll,  was Geld heißt und wozu er es benutzen kann. Crusoe richtete seine Pistole auf Freitag und sagte ihm: „Du hast keine andere Wahl”, und so begann Freitag Crusoe zu dienen.

Das Geld fließt nun  in eine Richtung: von Crusoe  zu Freitag. Eines Tages war   das ganze Vermögen Crusoes in den Händen Freitags. Nun forderte  Freitag Crusoe auf, ihm seinerseits für Geld zu dienen. Natürlich lehnte Crusoe die Aufforderung ab, und zwar mit Erfolg,  denn er hatte die Pistole immer noch in der Hand.

Die Fantasie, die zum Schreiben der Geschichte dieses Films geführt hat, erklärt mir, dass manche philosophische oder wirtschaftliche Texte – wie z.B. das KAPITAL -  durch andere literarische Texte neu beleuchtet werden können.

 

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Im Dorf (Buhriz), wo ich geboren bin, hat das kollektive Gedächtnis der Bewohner für Dekaden ein Verbrechen bewahrt: ein Mörder hat eine friedliche unschuldige Person namens Gazal mit dem Dolch erstochen. Da die Tat so schmerzlich und provozierend war, wurde in das kollektive Gedächtnis der Dorfbewohner eingegraben und als historische Zeitmarke betrachtet, und so erinnern sie sich an wichtige Ereignisse: „Das fand vor (oder nach) dem Tod Gazals statt“.

Das Verbrechen fand in einem Café, in dem die Bewohner des Dorfs sich trafen, statt. Das Blut des Opfers ergoss über  den Boden des Cafés. Jahr für Jahr bluteten die Bodenziegel,  wenn sie gereinigt wurden. “Gazals Blut weigerte sich zu trocknen “.

 

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“Der Geruch der Guave” ist der Titel eines Buches, das ein detailliertes Interview mit dem kolumbianischem Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez, enthält. In diesem Interview erzählt Marquez:

"Meine Tante war mit einem Stück weißen Stoffs beschäftigt. Neugierig fragte ich sie”:

„Was tust du da, Tante?“.

“Ich bereite mein Leichentuch vor, weil ich morgen sterben werde”, Antwortete meine Tante.

„Am nächsten Tag starb sie“, Sagte er.

Mercedes, die Frau von Marquez, erzählte: Während er damit  beschäftigt war, den Roman „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ zu schreiben, verbrachte Marquez eine Woche isoliert und depressiv in seinem Arbeitszimmer, weil er, gemäß dem Verlauf der Erzählung, den Oberst, den er sehr geliebt hat, sterben lassen musste. Als er endlich den Mut hatte, ihn zu “töten”, kam er aus seinem Arbeitszimmer heraus und weinte um ihn. 

Die Genialität Marquez liegt nicht darin, dass er im Vergleich zu vielen anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen unbegrenzte Fantasie hätte, sie liegt vielmehr darin: Marquez glaubt seine Fantasie. Es gibt bei ihm keine Grenze zwischen Fantasie und Realität.

Wir wissen nicht, oder eher brauchen nicht zu wissen, ob seine Tante  tatsächlich am nächsten Tag  gestorben ist, oder ob tatsächlich, wie er in einer anderen Erzählung schrieb, gelbe Schmetterlinge den Körper eines Mädchens begleitet haben, als sie gestorben ist und in den Himmel flog. 

Marquez hat einmal geschrieben: “ früher oder später wird Realität beweisen, dass die Fantasie Recht hat“.

Die Beziehung zwischen Leben und Tod ist für einen Schriftsteller ein Fall des Paradoxes, weil der Schöpfer gleichzeitig der Mörder ist.

 

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Aus den Bodenziegeln dieses Cafés in Buhriz „sprudelte“ für  Dekaden frisches Blut. Jedes Mal, wenn, der Boden gereinigt wurde, versammelten sich mehrere Leute, um dieses wunderbare Phänomen zu beobachten.

Eines Tages kommt diese Geschichte zu Ende: die Repräsentanten  der neuen Generation des Dorfs, die schon an den Fakultäten in Bagdad studieren haben,  fanden, dass es ihre Aufgabe ist, die Bewohner des Dorfs von diesen „Illusionen“ zu befreien. Sie stellten Untersuchungen an und fanden stolz  heraus, dass die rote ausgewaschene Farbe aus dem Eisenoxid stammt, das im Ziegelmaterial enthalten ist.

Der Rationalismus ist der erbitterte Feind der Fantasie und Kreativität. Im Fall Marquez stellte sich die Frage nicht, ob ein Phänomen wissenschaftlich logisch ist, sondern ob es Quelle der Kreativität sein kann.

Und so wurde der kollektive Protest der Dorfbevölkerung sabotiert.

Die Kindheit der Menschheit ist bedeckt von Schichten der rationale, logische und pragmatische Gedanken und es bedarf daher archäologische Forschung um die sprudelnde Quelle zu erreichen.